Ex-Verfassungsrichter: Deutschland rutscht zum Zweite-Welt-Land ab
Verfassungsrichter neigen gemeinhin nicht zur Panikmache. Wenn also Andreas Voßkuhle, ehemaliger Bundesverfassungsgerichtspräsident, vor dem Abrutschen Deutschlands „zum Zweite- oder irgendwann sogar Dritte-Welt-Land“ warnt, dann hat das etwas von Kometeneinschlag im Dino-Zeitalter. Die 16 Arbeitsgruppen in Berlin sollten sehr genau hinhören.
„Wenn wir jetzt nicht in die Puschen kommen, dann wird das ein dramatisches Ergebnis werden,“ erklärte Voßkuhle gestern vor Journalisten. „Das geht unter den augenblicklichen Umständen relativ schnell.“
Diejenigen von Ihnen, die in den letzten Jahren gelegentlich in den USA oder Asien waren, teilen seine Erfahrung vielleicht: „Ich war jetzt drei Monate in New York an der NYU”, berichtet der 61-Jährige Hochschullehrer über seine Uni-Tätigkeit. „Wenn Sie da mit Kollegen sprechen, die behandeln Sie, als wenn Sie ein Zweite-Welt-Land sind. Die haben Sie schon abgeschrieben. Die halten Deutschland und Europa nicht mehr für handlungsfähig.“
„Initiative Handlungsfähiger Staat”
Auch deshalb hat sich die „Initiative Handlungsfähiger Staat” gegründet, der Voßkuhle, der ehemalige Bundesminister Thomas de Maizière (CDU), Medienmanagerin Julia Jäkel und SPD-Vernunftmensch Peer Steinbrück angehören. Alle vier besitzen große innere Unabhängigkeit, müssen anders als die Koalitionäre nicht an die nächste Wahl denken und haben nach intensiven Expertengesprächen einen Zwischenbericht vorgelegt: 30 konkrete Vorschläge für „Umbauten im Maschinenraum des Staates”.
Beispiel Vertrauen: Weniger Berichts- und Dokumentationspflichten, im Gegenzug mehr Stichproben. Und wer das Vertrauen missbraucht, wird härter als heute sanktioniert.
Beispiel Soziales: vereinfachen, bündeln, einheitliche Sprache. Aktuell verantworten fünf Bundesministerien etwa 170 Leistungen, die von fast 30 Behörden unter Verwendung unterschiedlicher Begrifflichkeiten verwaltet und in 16 Ländern mit 400 kommunalen Gebietskörperschaften teils unterschiedlich umgesetzt werden. Lähmend.
Parteiübergreifende Kraftanstrengung für Staatsreform
Damit der Staat wieder handlungsfähig werde, brauche es „eine parteiübergreifende Kraftanstrengung, eine Staatsreform, jenseits alter ideologischer Machtkämpfe.“
Kommt sie nicht, so de Maizière, könnten die von Union und SPD geplanten Ausgaben für Infrastruktur und Verteidigung gar nicht wirksam eingesetzt werden: „Wir haben bereits jetzt Milliardenbeträge an Investitionen, die nicht abfließen“, sagte er.
Bis Juli soll der Abschlussbericht vorliegen. Die neue Regierung hätte allen Grund, die Ideen umzusetzen. Weniger Vollkasko-Mentalität, mehr Flexibilität. Damit wir weder Zweite-Welt-, Dritte-Welt- noch Dino-Land werden.